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Innere Geschlossenheit um jeden Preis

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Am 29. August 2022 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag über seine europapolitische Zukunftsvision. Auf der Grundlage des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf die Ukraine stellte er vier Grundüberlegungen vor, welche sich mit den Begriffen Erweiterung der Europäischen Union, Souveränität, Einigkeit und Wertefundament zusammenfassen lassen. Während sein Plädoyer für eine erweiterte, souveräne und nach innen geschlossene EU entschlossen und energisch wirkte, blieben seine Ausführungen zum Wertefundament der EU erstaunlich knapp. Weder ging er konkret auf die schwerwiegenden Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Polen und Ungarn ein, auf die die Europäische Kommission in ihren neusten Rule of Law Reports erneut hinwies. Noch erscheinen seine Vorschläge zur Abstellung bestehender rechtsstaatlicher Defizite in allen Mitgliedsstaaten überzeugend.

Nachdrückliches Plädoyer für eine erweiterte, souveräne und nach innen geschlossene EU

Olaf Scholz präsentierte mit den ersten drei Grundüberlegungen, die den weit überwiegenden Teil seiner Rede ausmachten, sein Modell einer erweiterten, souveränen und nach innen geschlossenen EU. Diese betrachtet er als Antwort auf den russischen Überfall in der Ukraine und die damit wieder aufgekommene Angst vor einem neuen Ost-West-Konflikt. Ausdrücklich bekannte er sich zur Erweiterung der EU um die Ukraine, Moldau, die Staaten des Westbalkans sowie „perspektivisch“ um Georgien. Eine derart erweiterte EU sei aus seiner Sicht bedeutsam, damit diese von einem Projekt des inneren Friedens hin zu einer neuen Friedensaufgabe, dem Schutz der äußeren Sicherheit, fortgebildet werden könne. Um dies zu erreichen, sagte er diesen Staaten seine Unterstützung bei der Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen und zu und erklärte zugleich, dass auch die EU selbst durch Vertragsanpassungen für diese Erweiterung fitgemacht werden müsse. Die Souveränität der EU gegenüber Russland und anderen Großmächten gedenkt er durch die Schaffung eines digitalisierten und klimaneutralen Binnenmarkts, an dessen Verwirklichung die Europäische Kommission bereits mit dem Green Deal und der Digitalstrategie seit einigen Jahren arbeitet, zu stärken. Für die Realisierung seiner zahlreichen Einzelvorhaben (von einer europäischen Wasserstoffinfrastruktur über klimaneutrale Kraftstoffe bis hin zu einem gemeinsamen Luftverteidigungssystem) und der Wahrung der äußeren Sicherheit der EU bedürfe es laut Scholz der inneren Geschlossenheit der Mitgliedstaaten. Der Ukrainekrieg sowie der belarussische Versuch, die EU durch die Grenzöffnung für Geflüchtete unter Druck zu setzen, zeigten, dass die Mitgliedstaaten „die Reihen schließen, alte Konflikte überwinden und neue Lösungen finden“ müssten. Man kann die vielen verschiedenen Reformvorschläge des Bundeskanzlers als ambitioniert betrachten. Würden sie alle realisiert, so stiege die EU eine gewaltige Integrationsstufe hinauf.

Zurückhaltende Äußerungen zum Wertefundament der EU

Hinter diesen Bestrebungen tritt das Engagement des Bundeskanzlers für die Wahrung der europäischen Werte leider zurück. Erst gegen Ende seiner Rede und lediglich auf eineinhalb Druckseiten setzte er sich mit der Wahrung der europäischen Werte in den Mitgliedsstaaten auseinander.

Auffallend zurückhaltend thematisierte Scholz dabei die rechtsstaatsfernen Vorgänge in Polen und Ungarn. Er äußerte lediglich allgemein die Besorgnis darüber, dass innerhalb der Europäischen Union über illiberale Demokratien gesprochen werde, ohne den ungarischen Ministerpräsidenten Orban direkt zu benennen, der diesen Begriff geprägt hat.  Ausdrücklich sicherte der Bundeskanzler der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament seine Unterstützung bei ihren Bemühungen für die Rechtsstaatlichkeit zu. Bestehende Defizite seien durch „alle vorhandenen Möglichkeiten“ abzustellen. Dies fordere die große Mehrheit der Unionsbürgerinnen und Bürger, „übrigens auch in Ungarn und Polen“. Diese Aussagen des Bundeskanzlers zeigen eindrücklich, dass er eine offene Konfrontation Polen und Ungarns in seiner Grundsatzrede vermeiden wollte. Mit dieser alleinigen Bezugnahme auf den Willen der polnischen und ungarischen Bürgerinnen und Bürger nach einem verstärkten Engagement für Freiheit und Demokratie in ihren Ländern, wurde der Bundeskanzler gerade ihrem Wunsch nicht hinreichend gerecht. Angesichts der lediglich geringen Verbesserungen der rechtsstaatlichen Situation in Polen und dem unbeeindruckten Fortbestand beachtlicher Defizite in Ungarn, wie sie die jeweiligen Rule of Law Reports verdeutlichen, wäre ein ausdrückliches Benennen bestehender Defizite in seiner Rede geboten gewesen.

Über dieses Manko könnte man angesichts der von Scholz zuvor beschworenen Notwendigkeit der inneren Geschlossenheit der Mitgliedstaaten hinwegsehen, wenn seine Vorschläge zur Behebung der „in allen Ländern“ bestehenden Defizite (welche Defizite er genau meint, bleibt unklar) lösungsorientiert und überzeugend wären. Dem ist leider nicht so.

Scholz erklärte zunächst, dass er die Blockademöglichkeit des Rechtsstaatsverfahrens nach Art. 7 EUV überwinden möchte. Hierbei unterschlug er jedoch, dass die hierzu notwendige Änderung der Norm gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 48 EUV gerade auch von der Zustimmung Polens und Ungarns abhängig ist. Die Anpassung des Art. 7-Verfahrens dahingehend, dass Mitgliedsstaaten mit ähnlichen Werteverstößen von der Abstimmung über den jeweils anderen Staat ausgeschlossen werden, erscheint daher unwahrscheinlich. Möglich wäre lediglich die Auslegung des Art. 7 EUV dahingehend, dass eine Verfahrensverbindung erfolgt (vgl. hier). Zwar könnte der Bundeskanzler politisch auf eine solche Verbindung drängen, sein Einfluss bliebe jedoch begrenzt, da über die Zulässigkeit einer solchen Verfahrensverbindung gemäß Art. 269 AEUV letztlich der EuGH urteilen würde. Was der Bundeskanzler nunmehr konkret hinsichtlich Art. 7 EUV vorhat, bleibt mithin unklar.

Als „sinnvoll“ bezeichnete er die Verknüpfung der Auszahlung von Finanzmitteln mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Standard. Einer Bewertung, ob Polen und Ungarn die Anforderungen an die Auszahlung aus seiner Sicht erfüllten, enthielt sich der Bundeskanzler. Erhebliche Zweifel sind angebracht (vgl. zu Polen hier).

Im Anschluss forderte Scholz, dass das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV auch bei Verstößen gegen die Werte des Art. 2 EUV möglich sein sollen. Tatsächlich nimmt der EuGH seit der Rs. C-64/16 bereits über Art. 19 Abs. 1 Uabs. 2 EUV eine Operationalisierung des Werts der Rechtsstaatlichkeit im Vorabentscheidungsverfahren vor und setze dies mit der Rs. C-619/18 auch im Vertragsverletzungsverfahren fort. Zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit des Art. 2 EUV haben sich somit beide Verfahren bereits etabliert. Neuartig an der Aussage des Bundeskanzlers mag daher allenfalls erscheinen, dass er das Vertragsverletzungsverfahren wohl auch zur Durchsetzung der ebenso in Art. 2 EUV verankerten Werte der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit sowie der Wahrung der Menschenrechte nutzen möchte. Welcher Weg dafür der Kommission eröffnet werden soll, wie Scholz es fordert, bleibt hingegen unklar. Betrachtet man die Werte des Art. 2 EUV als europäischen Verfassungskern,1) so erscheint ein isoliert auf Art. 2 EUV gestütztes Vertragsverletzungsverfahren möglich. Es läge ferner durchaus in der Logik des Gerichtshofs, wenn dieser seine Kontrolle der Einhaltung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit auch auf die anderen Werte des Art. 2 EUV übertragen würde (vgl. hier).

Auf weitergehende beachtenswerte Vorschläge, wie beispielsweise den Ansatz Armin von Bogdandys, die Verletzung europäischer Werte strafrechtlich zu bewehren, in dem nationale Rechtsbeugungstatbestände entsprechend ausgelegt werden, dass die systemische Verletzung europäischer Werte von diesen mit erfasst wird,2) ging Scholz nicht ein. Selbstverständlich kann ein deutscher Bundeskanzler eine entsprechende Auslegung den jeweiligen nationalen Fachgerichten nicht vorschlagen. Doch angesichts der seit Jahren intensiv geführten rechtswissenschaftlichen Debatte über die Wahrung der Werte des Art. 2 EUV wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung mit möglichen Lösungsansätzen geboten gewesen.

Innere Geschlossenheit um jeden Preis?

Diese insgesamt knappen und unambitionierten Ausführungen des Bundeskanzlers zum Wertefundament der EU mögen darin begründet sein, dass er sich letzten Endes wünscht, dass über die Rechtsstaatlichkeit nicht vor Gericht gestritten werden müsste, sondern ein „offener Dialog auf politischer Ebene“ über die Defizite in allen Mitgliedstaaten geführt werde. Sicherlich, die Beseitigung bestehender Defizite im Wege diplomatischer Bemühungen erscheint einer gerichtlichen Lösung vorzugwürdig. Dass dieser Weg in den vergangenen Jahren gegenüber Polen und Ungarn jedoch gescheitert ist, ist evident. Jüngste Ankündigungen des PiS-Generalsekretärs, man werde mit anderen Mitgliedstaaten auf eine Abberufung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drängen, hätten auch den Bundeskanzler aufhorchen lassen sollen. Eine europapolitische Grundsatzrede, die wohl Assoziationen zur Sorbonne-Rede des französischen Staatspräsidenten Macron aus dem Jahr 2017 wecken soll, wäre für einen starken Appell an defizitäre Mitgliedstaaten der geeignete Ort gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass der Bundeskanzler entsprechende Äußerungen auf bilateraler Ebene tätigt. Letztlich stellt sich nach der Lektüre der Rede des Bundeskanzlers die Frage, ob die von ihm (vor dem Hintergrund des russischen Einmarschs in die Ukraine zu Recht) beschworene innere Geschlossenheit der Mitgliedstaaten um den Preis der Rechtsstaatlichkeit des Art. 2 EUV sichergestellt werden sollte. Die Antwort hierauf kann unmittelbar dem Art. 2 EUV entnommen werden. Satz 1 normiert die Werte, auf „die sich die Union gründet“ und die gemäß Satz 2 „allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam“ sind. Eine souveräne und nach innen geschlossene EU zeigt sich nicht nur darin, dass die Mitgliedstaaten Reformvorhaben präsentieren und zur Debatte stellen. Sie zeichnet sich gerade auch dadurch aus, dass die Mitgliedsstaaten auf die gegenseitige Achtung der Werte hinwirken.

References

References
1 So zutreffend Armin von Bogdandy, Strukturwandel des öffentlichen Rechts – Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft, 2022, S. 154 ff.
2 Vgl. dazu ausführlich Armin von Bogdandy, Strukturwandel des öffentlichen Rechts – Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft, 2022, S. 472 ff.

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